Heimatgeschichte(n)
Bayerns letzter Wolf: „As g’fraßi Luada!“
Ein Wolf reißt das Vieh der Tegernseer Bauern – und kein Jäger kann ihn stellen. Erst ein 18-jähriger Forstgehilfe erlegt ihn. Sein zweifelhafter Ruhm bis heute: Er hat den letzten Wolf Bayerns erschossen.
Text: Tatjana Kerschbaumer
Illustration: Esteban Salas Campos
Es geht zu wie bei einer Hochzeit an diesem Herbsttag im Jahr 1836: Böllerschüsse knallen über das kühle Wasser, mit Girlanden geschmückte Boote nähern sich von Abwinkl her dem Ort Tegernsee. An Bord: gestandene Männer in ihrem besten Gewand, Jäger, Schützen. Und: der Wolf. An eine Stange gebunden, mit Immergrün umkränzt, tot.
Nicht irgendein Wolf, nein. Als “g’fraßi Luada” ist er seit Jahren bei Weidebesitzern und Almbauern verschrien, oft hat er ihre Tiere angefallen. Hirschberg, Fockenstein, das Söllbachtal – kein Gebiet ist sicher. Der Wolf richtete “schweren Schaden unter den Viehbeständen an, riss besonders Kälber und Schafe massenhaft”, schrieb der Straubinger Jäger und Schriftsteller Arthur Achleitner knapp 80 Jahre später in seinem Buch “Jagdparadiese in Wort und Bild”.
Gesehen wird das “Untier” oft, etwa von Josef Wackersberger senior, der im Alter von zehn Jahren als Hütebub arbeitet. Er soll der Letzte gewesen sein, der dem Wolf im Frühjahr 1836 Auge in Auge gegenübersteht – vor dessen Abschuss. Wackersberger denkt zunächst, er habe es mit einem großen, bösen Hund zu tun, der gerade ein einjähriges Schaf gerissen hat. Mit der Geißel versucht er den Wolf zu vertreiben, was aber beinahe schiefgeht: Das Tier denkt nicht an Rückzug und macht Anstalten, den Bub zu attackieren. Wackersberger flüchtet sich in einen nahe gelegenen Stadl und erzählt kurz darauf seinem Bauern von dem Vorfall. Der ist sich sicher: Das war der Wolf, as g’fraßi Luada!
Alle Jäger des Tals sind hinter dem Wolf her – alle scheitern. Erst ein gerade einmal 18-Jähriger spürt ihn auf. Sein Name: Anton Hohenadl.
Hohenadl wird 1818 im Kreuther Ortsteil Glashütte geboren und geht bei seinem Vater, einem königlichen Forstwirt, in die Lehre. Nach dessen Tod beendet er seine Ausbildung in Schliersee – und hat seinen Titel “funktionierender Forstgehilfe” gerade in der Tasche, als er zur entscheidenden Wolfshatz an den Tegernsee zurückkommt. Der “Toni”, wie Autor Achleitner schreibt, “pirschte fleißig” und verschwindet oft mehrere Tage in den Bergen, “um den gefürchteten Schädling zu erlegen”.
Das Dankesgeschenk der Tegernseer Bauern steht heute im Museum Tegernseer Tal.
Foto: Urs Golling
Als er sich schließlich mit mehreren Jägern zu einer Treibjagd im Saurüsselgraben zusammentut, gelingt ihm der Coup: Mit einem alten Vorderlader erschießt er den Wolf, der ihm laut historischer Quelle direkt vors Gewehr springt. Die Freude ist riesig. Was aber weder Hohenadl noch seine Mitstreiter zu diesem Zeitpunkt wissen: Es ist – für lange Zeit – der letzte bayerische Wolf, den sie gerade erlegt haben. Danach gilt das Tier im Freistaat als ausgerottet. Den Menschen ist Artenschutz damals herzlich egal. Jubelnd begrüßen sie Hohenadl und die anderen Jäger, als sie mit ihren Booten in Tegernsee ankommen.
Der tote Wolf wird zum damaligen Forstamt gebracht. Dort, im Bürgermeisterzimmer des heutigen Rathauses, wird er aufgebahrt. Einen Groschen müssen Schaulustige zahlen, um ihn besichtigen zu dürfen. Später steht er ausgestopft in München, Neuhauser Straße, Zoologische Staatssammlung. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Bomben macht ihm den endgültigen Garaus. Der letzte Wolf vom Tegernsee, von Bayern: er ist heute nicht mehr erhalten.
Anton Hohenadl dagegen profitiert deutlich von seinem Ruhm als Wolfsjäger. Die Tegernseer Talbauern schenken ihm zum Dank ein doppelläufiges, mit Silber verziertes Gewehr. Später ist er als “berühmtester Förster Bayerns” bekannt, was allerdings nur bedingt mit dem Wolf zu tun hat: Hohenadl macht sich ab 1854 als königlicher Förster in Schleching im Chiemgau einen Namen – unter anderem, indem er hart gegen Wilderer vorgeht. Mit 61 Jahren stirbt er in seiner Wahlheimat. Sein Tod wird auch in einem ihm zu Ehren gedichteten Lied von Fritz Schenk aus dem “Tegernseer Anzeiger” aufgegriffen.
“Und was is aus’n Schützn wor’n?”
“Da Schütz? – der hat dö ewi Ruah!
Als Forstwart is a z’Schlechin g’storbn
Schick eam an Vata unsa zua!”
Das Lied, das am Ende zitiert wird, stammt aus dem Privatarchiv von Karl J. Reiner aus Tegernsee, es wurde im Heft 153 im Jahr 2011 im „Tegernseer Tal Heft“ abgedruckt.
STECKBRIEF
Seeseiten, Herbst 2019.
Heimatgeschichten
erzählt von Tatjana Kerschbaumer
Was tun Sie gerade, …?
Die Keramikerin Monika Ulbrichtbetreibt die gleichnamige Werkstatt am Tegernsee in vierter Generation.