Achtsamkeit und Psychohygiene

„Wir haben jeden Morgen die Chance zum Neuanfang“

Frühling im Tegernseer Tal – und das nach einem Winter mit etlichen Entbehrungen. Zeit, den Winterfrust abzulegen, nach vorne zu schauen und neue Lebensfreude zu tanken. Die Rottacher Psychotherapeutin Sonja Kramer erzählt unserer Autorin, was uns jetzt glücklich macht und nennt heilsame Strategien für die Psyche.

Interview: Ute Watzl

Sonja Kramer setzt auf eine positive Vorstellung von der Zukunft.
Foto: Urs Golling

Wie geht es Ihnen, Frau Kramer?
Sehr gut, ich habe gerade den Sommerurlaub gebucht (lacht).

Der Winter war ja nicht ganz einfach. Was hat Ihnen geholfen, gut gelaunt durch die vergangenen Monate zu kommen?
Vor allem Gelassenheit.

Das war ja nicht selbstverständlich. Woher haben Sie die genommen?
Ich konnte mein Leben weitgehend so weiterführen, wie es sich für mich bewährt hat: gesunde Ernährung, eine gute Partnerschaft und Freunde, viel Bewegung draußen mit meinem Hund, Meditation und auch meine Arbeit gibt mir viel Sinn. Wahrscheinlich verfüge ich auch über eine gute Resilienz.

Davon hört man jetzt sehr oft. Was genau ist das?
Resilienz bezeichnet die psychische Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten oder bei kritischen Erlebnissen.

Gut essen, viel bewegen und Zufriedenheit im Job – hört sich nicht allzu schwierig an, krisenfest zu werden?
Das gehört alles zur persönlichen Selbstfürsorge. Wenn wir genauso viel Zeit für die Pflege unseres inneren Stimmungshaushaltes aufbringen würden wie für unsere Körperpflege, hätten wir ein paar mehr glückliche Menschen (lacht). Zu meiner Psychohygiene zählt aber auch, dass ich mich grundsätzlich an einer positiven Sicht auf das Leben ausrichte. Ich suche nicht so sehr nach den Mängeln, mehr nach der Fülle.

Dann gehören Sie zu den Menschen, die in jeder Situation das Gute sehen, während andere sich in der gleichen Situation darüber ärgern, dass die Dinge nicht genau so laufen, wie sie es sich wünschen. Wie machen Sie das?
Wir Menschen haben oft sehr starre Erwartungen, wie unser Leben zu laufen hat. Und wenn es anders kommt als geplant, sind wir enttäuscht. Menschen dagegen, die innerlich flexibel bleiben und sich der Dynamik des Lebens bewusst sind, können besser auf Veränderungen und Unerwartetes reagieren. Sie interpretieren Ereignisse als eine Herausforderung, die sie bewältigen können.

Also die berühmte rosarote Brille?
Sie können ja mal die dunkelgraue Brille aufsetzen und schauen, wie es Ihnen dann geht … (lacht). Es herrscht leider der Irrglauben, eine positive Vorstellung von der Zukunft sei nur ausgedacht, die negative sei die realistische. Dabei ist eine negative Sicht auf die Zukunft auch nur eine gedankliche Phantasie. Wenn ich eine positive Erwartung habe, die sich nicht erfüllt, bin ich zwar auch enttäuscht, aber ich hatte eine bessere Zeit.

“Alles im Leben ist vergänglich, auch die schwierigste Zeit”, sagt Sonja Kramer.
Foto: Urs Golling

Bis dahin …
Ja, bis dahin. Wir wissen zwar nicht, was die Zukunft bringt. Wir können aber trainieren, unsere Gedanken und Gefühle im Hier und Jetzt bewusster zu steuern.

Wir sollen unsere Gefühle selbst manipulieren, um besser drauf zu sein?
Wir manipulieren unsere Gefühle sowieso ständig im Alltag. Aber wir haben im Prinzip die Möglichkeit zu entscheiden, was wir selbst über unsere Sinne hineinlassen. Zum Beispiel über unseren Medienkonsum: Schaue ich täglich mehrfach Schreckensnachrichten oder wende ich mich positiven Dingen zu, wie zum Beispiel einem Telefonat mit einem lieben Freund, einem aufbauenden Buch, Meditation, Sport oder einfach dem Sein in der Natur? Das kann jeder mal für sich überprüfen. Es ist also eher ein Umlernen, weg von der Gewohnheit, Negatives zu denken. Denn Gedanken lösen Emotionen aus, diese wiederum eine biochemi- sche Reaktion im Körper, und die stärkt oder schwächt unseren Stimmungshaushalt und das Immunsys-tem. Und das kann man trainieren.

Wie sieht so eine Trainingseinheit aus?
Man kann damit anfangen, indem man sich zum Beispiel ganz bewusst zehn positive oder schöne Dinge fürs Auge sucht. Der Frühling bietet dazu beste Gelegenheiten. Und das Tegernseer Tal mit dem See und den Bergen sowieso. So verschieben wir den Fokus und trainieren unsere positive Wahrnehmung.
Genauso gut können Sie sich zehn Minuten hinsetzen und an schöne Dinge in ihrem Leben denken – ein besonders tolles Erlebnis, ein schöner Urlaub, geliebte Menschen. Sie werden mit einer guten Stimmung rausgehen.

Wie oft muss ich das trainieren, damit ich das verinnerliche?
Ein positiver emotionaler Effekt stellt sich sofort ein. Um aber auf diese Weise die gesamte Lebenshaltung zu verändern, sollte man das täglich wiederholen. Ein sehr gutes Mittel sind auch Meditationen, am besten in der Früh, bevor ich in den Alltag starte.

Sie empfehlen, die weniger schönen Teile der Wirklichkeit auszublenden, damit es uns gut geht?
Tatsächlich sagt man, dass die depressive Weltsicht die etwas realistischere ist (lacht). Dinge positiv zu sehen, heißt ja nicht, wegzuschauen, blind zu werden, für das, was schwierig ist. Es ist wie bei einer Bergwanderung, wo rechts neben dem Pfad ein Abgrund ist. Ich sehe ihn, darf aber nicht die ganze Zeit nach unten schauen, sondern konzentriere mich auf den Weg.

Wie kann jeder für sich eine optimistische Sichtweise auf die Zukunft entwickeln?
Indem er oder sie sich bewusst macht, dass alles im Leben vergänglich ist, auch die schwierigsten Zeiten. Das zeigt uns auch der Frühling. Gefühle kommen und gehen, solange wir uns nicht in sie hineinsteigern oder versuchen, sie zu unterdrücken. Wir selbst können sehr viel für unser psychisches und körperliches Wohlbefinden beitragen. Die persönliche Kontrolle, die wir über unsere künftige Stimmung haben, ist größer, als die meisten vermuten. Wenn ich im Hier und Jetzt, besonders im Kleinen dafür sorge, dass es mir gut geht, dann wird auch der nächste Moment angenehmer. Mein Gehirn ist dann in einem Zustand, der mehr von demselben produziert.

Was macht der Frühling mit den Menschen – aus psychologischer Sicht?
Frühling ist ein Neuanfang. Durch die Veränderungen des Lichts, der Farben und der Temperaturen ergibt sich körperlich wie psychologisch eine Aufwärtsspirale: Der Körper produziert durch längeres Tageslicht mehr von den Neurotransmittern und Hormonen, die für Aktivität und Wachsein zuständig sind. Auch die Farben der Natur sind positiv für Stimmung und Körper. Es ist bekannt, dass Menschen in Krankenhäusern schneller genesen, wenn der Blick aus dem Fenster auf Bäume und grüne Natur fällt. Der vergangene Winter hat uns die Chance gegeben, genauer hinzuschauen, was wir wirklich brauchen für unser Wohlbefinden. Der Frühling bietet, ganz besonders in diesem Jahr, die Gelegenheit, sich neu zu fokussieren: An welchen Schaltstellen in meinem Leben kann ich vielleicht drehen, damit ich zufriedener werde?

Der Frühling als Heilsbringer? Dabei kann der Winter doch auch wunderschön sein. Muss ich immer erst auf den Frühling warten für einen Neustart?
Nein, eigentlich haben wir jeden Morgen die Chance für einen Neuanfang. Schlafen ist wie ein „Reset“-Knopf in Bezug auf unsere Stimmung — aber ich muss dann morgens natürlich auch innerlich das richtige „Programm“ einstellen. Da hilft zum Beispiel eine kurze Meditation: Achten Sie mal fünf Minuten bewusst auf das Ein- und Ausatmen, ohne es zu manipulieren und beenden Sie die Übung dann mit dem Wunsch, am heutigen Tag etwas mehr Freude wahrzunehmen.

Dass sich die Stimmung im Frühling bessert, ist also nicht nur reine Chemie?
Die Stimmung kann die Folge von physiologischen Prozessen sein, aber man kann auch selbst etwas dazu beitragen, dass sie besser wird. Nämlich indem man lernt, seine Emotionen zu steuern. Stimmung und Emotion beeinflussen sich gegenseitig, sind aber nicht das Gleiche. Eine Emotion ist eher kurzlebig und hängt von gedanklichen Bewertungsprozessen ab, während Stimmung als ein länger andauernder Gefühlszustand geringerer Intensität bezeichnet werden kann.

Was kann jeder selbst dafür tun, sich aus einem Stimmungstief zu holen?
Wir denken am Tag etliche zehntausend Gedanken und ca. 90 Prozent davon sind genau dieselben Gedanken, die wir gestern schon gedacht haben. Das bringt mich in die selbe Stimmung wie gestern und wenn ich in einem Stimmungstief war, dann fühle ich mich heute wieder schlecht. Also muss ich die Gedanken in eine positive Richtung lenken. Und zwar Schritt für Schritt, denn von zu Tode betrübt sofort hin zu himmelhoch jauchzend, das funktioniert nicht. Erstmal ist es wichtig zu akzeptieren: „Ok, so ist es jetzt eben.“ Den inneren Widerstand aufgeben. Dann ist man wieder freier für Veränderung, für positivere Gedanken: an den Sommerurlaub zum Beispiel, und all das, was uns positive Aussichten verschafft.

Veränderungen machen zufrieden?
Sich selbst wachsen und entwickeln zu sehen, weckt Befriedigung, ja. Aber wer sein Leben verändern möchte, muss seine Gewohnheiten verändern, und durch andere ersetzen. Wenn ich beispielsweise den Wunsch habe, eine Joggerin zu werden, dann muss ich anfangen zu joggen.

Von jetzt auf gleich?
Nein, Schritt für Schritt. Lieber jeden Tag fünf Minuten laufen, als auf einmal aus dem Stand eine halbe Stunde zu probieren. Die Routine formt dann Gewohnheiten. Übrigens: Eine halbe Stunde Ausdauersport am Tag wirkt wie ein leichtes Antidepressivum.

Hilft es, sich Ziele zu setzen?
Das Setzen von Zielen hilft, sich in eine bestimmte Richtung auszurichten. Dafür sind Ziele wichtig. Der Weg dahin ist entscheidender, als das 100%ige Erreichen des Zieles selbst. Glücklich machen die Ziele, auf die man sich jetzt schon freut, die einen jetzt schon motivieren.

Achtsamkeits-Training, Meditation, Psychohygiene – das klingt immer nach Urlaub, also viel Zeit, vor allem für sich selbst. Die Realität sieht oft anders aus. Als berufstätige Mutter bin ich froh, gelegentlich Zeit für ein Buch zu finden. Wie bekomme ich da die regelmäßige Zeit für mich unter?
Es hilft auch schon, morgens nach dem Aufwachen noch im Bett, zwei, drei Minuten sich bewusst zu machen, wie will ich in den Tag starten? Meditation bedeutet nicht zuletzt, ‚etwas kultivieren‘, ‚etwas einüben‘. Und darum geht es am Ende: sich täglich wenige Minuten heilsame Gedanken zu machen. Ob Sie sich dazu die Zeit nehmen, ist eine Entscheidung. Und wenn es Ihnen gut tut, werden Sie es wieder machen. Lieber täglich ganz kurz, als am Wochenende einmalig zwei Stunden.
Eine andere Möglichkeit ist, beispielweise bei einer Haushaltstätigkeit Ihrer Wahl, sich ganz bewusst auf die Tätigkeit zu konzentrieren. Beim Fensterputzen im Frühling den Glasreiniger ganz bewusst riechen, das Tuch spüren, das Licht wahrnehmen. Damit schulen Sie die Achtsamkeit und eine gewisse Klarheit für das, was ist, nicht das, was danach kommt oder kommen soll. Es geht darum, den jetzigen Moment wahrzunehmen. Und aus ihm das Beste zu machen.

Was sagen Sie Menschen, die immer wieder die Vergangenheit heraufbeschwören, statt nach vorne zu schauen?
Jemandem, der es zur Gewohnheit hat werden lassen, mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart zu sein, würde ich raten einmal hinzuschauen, was wir alles haben. Wir leben an einem der schönsten Flecken der Erde. Und Schönheit, Ästhetik beeinflusst uns positiv. Das Zusammenspiel aus See, Bergen, Wald bietet eine besondere Vielfalt an schönen Dingen. In die Natur zu schauen, beruhigt uns automatisch. Nicht umsonst hat das Waldbaden eine therapeutische Wirkung. Oder betrachten Sie mal ganz bewusst für eine Weile den glatten See! Im Buddhismus gibt es dafür ein schönes Bild: Der Geist in seinem üblichen Zustand ist wie ein wilder Wasserfall, durch Übung von Achtsamkeit und Meditation wird er zunächst zu einem langsam dahinfließenden Strom und schließlich ruhig wie ein klarer Bergsee.

Sonja Kramer hat Psychologie in Würzburg und Berlin studiert und eine psychotherapeutische Ausbildung an der Bayerischen Privaten Akademie für Psychotherapie (BAP) in München absolviert. Nach einigen Jahren am Klinikum und in der eigenen Praxis in München, erweiterte sie ihre Fachkenntnis um den Studiengang „Buddhistische und Südasiatische Studien“.
Seit 2018 betreibt sie eine Praxis in Rottach-Egern. Darüber hinaus bietet sie Meditationsabende und Workshops zu Achtsamkeit und Selbsterfahrung.

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